Warum die Musikindustrie auf Dr. Seltsams neues Gesetz hofft...
hotgun, Donnerstag, 6. Dezember 2007, 19:47
10.000 Euro für das Lied, 3000 Euro für den Anwalt
Frühmorgens klingelt es Sturm an der Haustür. Die Polizei steht mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür und beschlagnahmt in den folgenden anderthalb Stunden alle Computer und Datenträger des selbständigen Grafikers, der mit seiner Familie im Grünen lebt und arbeitet. Die PC-Ausstattung wird der Familienvater nie wiedersehen. Sie wird öffentlich versteigert. Alle beruflichen Unterlagen sind weg, sämtliche Sicherungskopien, die Aufzeichnungen fürs Finanzamt, sogar die privaten Familienfotos. Der Anlass für dieses spektakuläre Eingreifen der Staatsmacht ist banal: Der 13 Jahre alte strafunmündige Sohn hat Musik aus dem Internet kopiert. Später stellt das zuständige Gericht das Verfahren ein: „Eine Bagatellstraftat“. Aber für den Selbständigen wird es eng: Anwaltskosten von 5000 Euro, ein halbes Dutzend Aufträge futsch, und in der Siedlung gilt der Mann nach der morgendlichen Aktion als höchst verdächtig.
Die Episode ist nicht erfunden. Sie ist Alltag in Deutschland. Um zu verstehen, was hier vorgeht, muss man einen Blick auf die Musikindustrie werfen. Sie ist durch den Rückgang der CD-Verkäufe und den Einbruch der Umsätze angeschlagen. Und noch viel mehr durch die Musik im Internet. Das Kopieren von digitalen Inhalten ist längst zum selbstverständlichen Umgang mit Kulturgütern geworden. Wie die Zeitungsleser am liebsten alle Artikel kostenlos im Netz lesen wollen, soll Musik gleich im MP3-Format auf dem iPod landen. Die CD im Ladengeschäft gilt der jungen Online-Generation als Relikt der Vergangenheit, und „die Plattenfirmen gehen langsam, aber sicher ein“, wie Bela B. von der Rockband „Die Ärzte“ sagt. Damit steht er nicht allein. Stars wie Madonna kehren der Plattenindustrie ganz den Rücken. Prince legt sein neues Album „Planet Earth“ kostenlos einer Zeitung bei, und Gruppen wie Radiohead, Nine Inch Nails und The Charlatans bringen ihre Titel über das Internet unter die Leute - den Preis bestimmt der Käufer selbst. Wie immer kann man auf den gesellschaftlichen Wandel in vielerlei Weise reagieren. Die Zeitungsverlage üben sich in geschmeidiger Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Die Musikindustrie ist hingegen der Ansicht, dass ihr allein Justiz und Politik aus der Krise aufhelfen können.
Die Daten befinden sich auf den PCs der Nutzer
Der Stein des Anstoßes sind Tauschbörsen im Internet, die nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung von 7,5 Millionen Deutschen genutzt werden, ganz überwiegend von Kindern und Jugendlichen. Diese Tauschbörsen sind riesige Flohmärkte für digitale Medieninhalte. Das Einstellen der Daten ist kostenlos. Alle Arten von Bildern, Filmen, Musikstücken und Spielen sind darin zu finden. Auf sie greift man mit speziellen Programmen zu, dem Tauschbörsen-Client. Nach der Installation definiert man einen Ordner als „Shared Folder“, der nun allen anderen Nutzern des Rings zugänglich ist. Schon kann es losgehen mit dem „Filesharing“. Früher wurden serverbasierte Netze verwendet wie das bekannte Kaazaa. Jeder Nutzer loggte sich in Server ein, speicherte dort seine Bestände und holte sich von dort Neues ab. Heutige Tauschbörsen-Netze arbeiten dezentral. Die Daten befinden sich auf den PCs der Nutzer. Die Server bilden lediglich die Knotenpunkte, stellen also die Verbindungen zwischen den einzelnen Computern her. Diese sogenannten Peer-to-Peer-Netze wie Gnutella oder Emule sind kaum zu greifen. Sperrt man einen Server, tauchen medusenartig zehn neue auf. Technisch ausgereifter arbeitet das Bit-Torrent-Netz. Findet der suchende Rechner beispielsweise die gewünschte Datei auf zehn anderen PCs, lädt er gleichzeitig von allen und setzt die Teile automatisch zusammen. So erreicht man sehr hohe Downloadraten.
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* Internet: Was Eltern zu Tauschbörsen wissen sollten
* „Kazaa“-Nutzerin zu 220.000 Dollar Geldstrafe verurteilt
* BGH-Urteil gegen T-Online: Leinen los für Piraten?
* Urheberrechte: Online-Tauschbörsen sollen haften
* Musikindustrie verklagt Hunderte Internet-Nutzer
Das Dateitauschen oder Filesharing ist einfach: Wer Musikstücke aus dem Netz holen möchte, gibt im Client-Programm den Titel oder Interpreten ein und bekommt meist schnell die Angebote angezeigt. Ein Klick, und schon beginnt der Download. Das ist bislang nicht strafbar. Wohl aber das gleichzeitige Zurverfügungstellen für andere Nutzer, der „Upload“. Setzt man die „Uploadrate“ herunter oder sperrt das Hochladen ganz, erhält man auch weniger Download-Tempo, denn eine Tauschbörse lebt vom gegenseitigen Geben und Nehmen. Mit dem neuen Urheberrecht zum 1. Januar will die Bundesregierung erreichen, dass auch der Download „offensichtlich rechtswidriger Angebote im Internet“ verboten sei. Der Gesetzestext ist aber nicht präzise und lässt noch viele Fragen und Interpretationen offen.
Die Musikindustrie will an den Abmahnungen verdienen
Die Musikindustrie kennt die Tauschnetze bestens und setzt hier mit ihren Fahndern an. Ab einer Menge von 400 Dateien - etwa dem Inhalt von 20 bis 40 Musik-CDs - im freigegebenen Ordner am eigenen PC kommt man in das Visier der privaten Sheriffs. Und der Staatsanwälte. Denn die Fahnder der Musikindustrie müssen die reale Person hinter der Internet-IP-Adresse des Nutzers ermitteln. Dazu brauchen sie die Justiz. Ihr Vorgehen ist immer gleich: Sie versuchen, zwei Dateien deutscher Künstler von der Festplatte des Internetnutzers zu laden und so das „Verbreiten urheberrechtlich geschützter Inhalte“ zu beweisen. Zusammen mit den Verbindungsdaten erfolgt die Strafanzeige. Nun beginnt ein abstruses Spiel: Die Strafanzeige soll keineswegs zu einem Gerichtsverfahren führen, sondern dient allein dazu, Name und Adresse des Musiktauschers von seinem Provider - wie etwa T-Online - zu erfahren. Der Provider muss nur auf richterliche Anordnung reagieren. Das ist der Sinn des Strafantrags. Aber der Staatsanwalt wiederum muss nur tätig werden, wenn die Ermittlung tatsächlich der Strafverfolgung dient. Die Musikindustrie wiederum will an den Abmahnungen verdienen.
Post von der Staatsanwaltschaft: So beginnt ein Ermittlungsverfahren, und es endet teuer
Post von der Staatsanwaltschaft: So beginnt ein Ermittlungsverfahren, und es endet teuer
Die Staatsanwälte werden so zu Datenbeschaffern der Musikindustrie. Sie fühlen sich missbraucht. Viele lehnen deshalb die Bearbeitung solcher Anträge ab, wie Michael Grunwald, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, erläutert: Hintergrund ist die massive Steigerung von Anzeigen. Gingen dort 2005 etwa 60 Verfahren ein, waren es 2006 fast 500 und 2007 allein im ersten Halbjahr schon 1577. Da hier unentgeltlich nur Musik getauscht wird und der „Straftäter“ in erster Linie den noch erlaubten Download anstrebt, besteht kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung: „Ich stelle häufig das Verfahren sofort ein, da es sich um ein Bagatellvergehen handelt“, sagt Staatsanwalt Wiedemann aus Offenburg und spricht offen von der Behinderung bei der Bearbeitung anderer Strafanträge durch die Serienbriefe der Musikindustrie. In Hamburg wird derzeit ein Staatsanwalt pro Tag mit 200 Anzeigen zugeschüttet. Waren es in ganz Deutschland von 2004 bis 2006 insgesamt 20.000 Anzeigen, sind es von Januar bis Spätsommer 2007 allein 30.000. Jeden Monat kommen weitere 5000 dazu.
Kein staatliches Interesse an einer Bestrafung
Stellt ein Staatsanwalt das Verfahren nicht ein, wendet er sich an den jeweiligen Provider. Oft, ohne sich von einem Richter autorisieren zu lassen. Das Zuordnen der Bestandsdaten zu der IP-Adresse ist auch für die Provider mit viel Zeit und Mühe verbunden. Dafür erhält das Unternehmen eine Aufwandsentschädigung von 20 Euro, für die der Steuerzahler aufkommt. Und die Entschädigung fällt gegebenenfalls doppelt an, wenn beispielsweise jemand Kunde von 1&1 ist und auf gemietete Leitungen der Telekom zurückgreift. Die Nutzerdaten erhält der Staatsanwalt, der sie eigentlich nicht braucht, da es kein staatliches Interesse an einer Bestrafung gibt.
In der Regel stellt die Staatsanwaltschaft deshalb das Verfahren ein, und damit beginnt die Abmahnaktion der Musikindustrie. Ihre Anwälte erhalten Akteneinsicht und die Nutzerdaten. Nun bekommt der Tauschbörsen-Nutzer eine schriftliche Abmahnung. Egal, ob 400 oder 40.000 Dateien getauscht wurden, der Brief ist bis auf wenige Zahlen gleich und endet mit einer strafbewehrten Unterlassungserklärung, die der Beschuldigte zurücksenden möge. Oder er landet wegen zivilrechtlicher Ansprüche der Musikindustrie vor Gericht.
Eines der Kinder ist der „Täter“
Der Kölner Rechtsanwalt Christian Solmecke, der Hunderte von Betroffenen vertritt, sagt dazu: „Zu 90 Prozent ist der Haushaltsvorstand der Beschuldigte, der sich seiner Schuld nicht bewusst ist, denn eines der Kinder ist der ,Täter'. Welches, lässt sich häufig weder familienintern und schon gar nicht von außen feststellen.“ Aber Papa freut sich zu früh. Denn nun greift die sogenannte Störerhaftung: Der Vertragspartner des Internet-Providers haftet, wenn über seine Internetverbindung Rechtsbruch begangen wird. Wer beispielsweise sein Wireless-Lan altruistisch betreibt und jedem zur Verfügung stellt, ist für Vergehen anderer Nutzer verantwortlich.
Mindestens 3300 Euro macht der Rechtsanwalt der Musikindustrie für seinen Standardbrief geltend. Es können aber auch 15.000 Euro sein. Entscheidend ist der Streitwert. Er soll den Schaden widerspiegeln, den die Musikindustrie erlitten hat. Nach gängiger Rechtsprechung sind das 10.000 Euro pro Lied, wie zuletzt das Landgericht Köln bestätigte (28 O 480/06). Es wird also davon ausgegangen, dass das Einstellen einer einzigen CD in Tauschbörsen die Musikindustrie um 8000 potentielle Käufer dieser Platte bringt (12 Lieder, 120.000 Euro Schaden, 15 Euro Kaufpreis). Eine fragwürdige, aber immer wieder von den Gerichten bestätigte Auffassung, die allen wissenschaftlichen Studien widerspricht, wonach Downloads aus Tauschbörsen keine negativen, sondern eher positive Auswirkungen auf die Verkäufe von herkömmlichen Tonträgern haben. Anwalt Christian Solmecke empfindet die Honorare für Serienbriefe als „eindeutig zu hoch“ und empfiehlt, zu verhandeln.
Tägliche Suche nach „Musikdieben“
Als größter Tauschbörsen-Fahnder in Deutschland gilt der Hamburger Rechtsanwalt Clemens Rasch. Ehemals Justitiar des „Verbandes der Musikindustrie“, gründete er die Firma „Pro Media“. Etwa 80 Mitarbeiter suchen täglich nach „Musikdieben“, die zwar so gut wie nie verurteilt, aber von Rasch zur Kasse gebeten werden. Nach eigenen Angaben hat Rasch rund 50.000 Familien in den vergangenen Jahren abgemahnt. Der Gesetzgeber erwägt zwar, die Gebühr von Massenabmahnungen mit der dritten Novelle des Urheberrechtsgesetzes zu begrenzen. Im Gespräch sind 50 Euro pro Fall. Justizministerin Zypries meint irrigerweise zu den Abmahn-Aktivitäten der Musikindustrie: „Die wollen nur an die großen Fische ran.“ Aber das klappt nicht, denn nicht einmal der Betrieb eines Tauschbörsen-Servers ist strafbar. Deshalb bleibt Rasch bei der Jagd auf die kleinen Täter, denn dort ist mit geringem Aufwand mehr zu holen. Er resümiert: „Jeder Fall wird geprüft, und danach werden eventuell die geforderten Kosten reduziert, aber es muss dem Täter weh tun.“ Stefan Michalk, Pressesprecher des Verbandes der Musikindustrie, ergänzt: „Im Durchschnitt zahlen die Betroffenen rund 2000 Euro. Das Geld geht nicht an die Labels, sondern wird zur Ermittlung der Täter und für Aufklärungskampagnen eingesetzt.“ Wie viel von den gesammelten Millionen in solche Aktionen fließen, will er allerdings nicht verraten. Die Nachfrage nach Material für die „Aufklärung“ geht ebenfalls ins Leere.
Neuerdings betreiben Polizei und Musikindustrie selbst eigene Tauschbörsen-Server, um Kinder und Jugendliche schneller zu ermitteln. Im vergangenen Jahr war ein solcher Server in das eDonkey-Netz eingebunden. Nach Auswertung der Daten fand eine spektakuläre Aktion statt: 130 Hausdurchsuchungen im gesamten Bundesgebiet, zirka 100 Computer und große Mengen Beweismaterial wurden sichergestellt. Federführend hier: Pro Media von Rechtsanwalt Rasch. Der verantwortliche Oberstaatsanwalt Jürgen Krautkremer legt aber Wert auf die Feststellung, dass die Überwachung des Servers von den Ermittlungsbehörden ausgeführt worden sei. Dieses Vorgehen halten andere Staatsanwälte für rechtlich grenzwertig. Gebracht hat die Aktion außer Medienecho wenig, denn die Menge der kopierten Dateien und deren Nutzer hat sich nicht verringert. Vor einigen Wochen mietete die Kriminalpolizei Hürth in Zusammenarbeit mit der „Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen“ einen Server in den Niederlanden, um als „Agent provocateur“ aufzutreten. Auch das ist rechtlich zweifelhaft. Anwalt Rasch sieht aber nur einen Weg: Jeder „Musikpirat“ müsse wissen, dass er abgemahnt werden könne. Nur wenn er selbst oder jemand in seinem Bekanntenkreis betroffen sei, bewirke dies etwas. Folgerichtig ist der direkte Zugriff der Musikindustrie auf die Nutzerdaten der Internet-Provider sein wichtigstes politisches Ziel.
Von Horst Brandl für FAZ.net
Das sagen die Beteiligten:
„Die Musikindustrie will mit ihren Massenabmahnungen die Leute bestrafen, die sich überhaupt noch für Musik interessieren. Sie wollen den Schwarzen Peter dem Verbraucher zuschieben und nicht einsehen, dass sie es eigentlich zum größten Teil selbst verbockt haben.“ (Rodrigo González von der Rockband „Die Ärzte“)
„Der nächste Gesetzentwurf zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums erleichtert die Situation von Verbrauchern, die sich hohen Rechnungen für eine anwaltliche Abmahnung wegen einer Urheberrechtsverletzung ausgesetzt sehen. Künftig sollen bei einfach gelagerten Fällen die erstattungsfähigen Anwaltsgebühren für die erste anwaltliche Abmahnung nicht mehr als 50 Euro betragen, wenn die Rechtsverletzung unerheblich ist und außerhalb des geschäftlichen Verkehrs erfolgt. Damit stellen wir sicher, dass bei der Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen nicht über das Ziel hinausgeschossen wird. Wer keine geschäftlichen Interessen verfolgt, ist künftig vor überzogenen Abmahnkosten besser geschützt.“ (Ulrich Staudigl, Bundesministerium der Justiz)
„Dass die unter Rechtslaien verbreitete Annahme, 'Eltern haften für ihre Kinder' keine gesetzliche Grundlage hat, lernen Juristen am Anfang ihres Studiums. Trotzdem neigen manche Gerichte dazu, die Eltern als Anschlussinhaber für von Kindern über den elterlichen Netzzugang begangene Rechtsverletzungen haften zu lassen. Damit wird letztlich dem Tor zur Informationsgesellschaft ein Gefährdungspotential zugeschrieben. Das kann so nicht richtig sein, und wir gehen davon aus, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist.“ (Rechtsanwalt Hans Fluhme, Verbraucherzentrale Hamburg)
Frühmorgens klingelt es Sturm an der Haustür. Die Polizei steht mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür und beschlagnahmt in den folgenden anderthalb Stunden alle Computer und Datenträger des selbständigen Grafikers, der mit seiner Familie im Grünen lebt und arbeitet. Die PC-Ausstattung wird der Familienvater nie wiedersehen. Sie wird öffentlich versteigert. Alle beruflichen Unterlagen sind weg, sämtliche Sicherungskopien, die Aufzeichnungen fürs Finanzamt, sogar die privaten Familienfotos. Der Anlass für dieses spektakuläre Eingreifen der Staatsmacht ist banal: Der 13 Jahre alte strafunmündige Sohn hat Musik aus dem Internet kopiert. Später stellt das zuständige Gericht das Verfahren ein: „Eine Bagatellstraftat“. Aber für den Selbständigen wird es eng: Anwaltskosten von 5000 Euro, ein halbes Dutzend Aufträge futsch, und in der Siedlung gilt der Mann nach der morgendlichen Aktion als höchst verdächtig.
Die Episode ist nicht erfunden. Sie ist Alltag in Deutschland. Um zu verstehen, was hier vorgeht, muss man einen Blick auf die Musikindustrie werfen. Sie ist durch den Rückgang der CD-Verkäufe und den Einbruch der Umsätze angeschlagen. Und noch viel mehr durch die Musik im Internet. Das Kopieren von digitalen Inhalten ist längst zum selbstverständlichen Umgang mit Kulturgütern geworden. Wie die Zeitungsleser am liebsten alle Artikel kostenlos im Netz lesen wollen, soll Musik gleich im MP3-Format auf dem iPod landen. Die CD im Ladengeschäft gilt der jungen Online-Generation als Relikt der Vergangenheit, und „die Plattenfirmen gehen langsam, aber sicher ein“, wie Bela B. von der Rockband „Die Ärzte“ sagt. Damit steht er nicht allein. Stars wie Madonna kehren der Plattenindustrie ganz den Rücken. Prince legt sein neues Album „Planet Earth“ kostenlos einer Zeitung bei, und Gruppen wie Radiohead, Nine Inch Nails und The Charlatans bringen ihre Titel über das Internet unter die Leute - den Preis bestimmt der Käufer selbst. Wie immer kann man auf den gesellschaftlichen Wandel in vielerlei Weise reagieren. Die Zeitungsverlage üben sich in geschmeidiger Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Die Musikindustrie ist hingegen der Ansicht, dass ihr allein Justiz und Politik aus der Krise aufhelfen können.
Die Daten befinden sich auf den PCs der Nutzer
Der Stein des Anstoßes sind Tauschbörsen im Internet, die nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung von 7,5 Millionen Deutschen genutzt werden, ganz überwiegend von Kindern und Jugendlichen. Diese Tauschbörsen sind riesige Flohmärkte für digitale Medieninhalte. Das Einstellen der Daten ist kostenlos. Alle Arten von Bildern, Filmen, Musikstücken und Spielen sind darin zu finden. Auf sie greift man mit speziellen Programmen zu, dem Tauschbörsen-Client. Nach der Installation definiert man einen Ordner als „Shared Folder“, der nun allen anderen Nutzern des Rings zugänglich ist. Schon kann es losgehen mit dem „Filesharing“. Früher wurden serverbasierte Netze verwendet wie das bekannte Kaazaa. Jeder Nutzer loggte sich in Server ein, speicherte dort seine Bestände und holte sich von dort Neues ab. Heutige Tauschbörsen-Netze arbeiten dezentral. Die Daten befinden sich auf den PCs der Nutzer. Die Server bilden lediglich die Knotenpunkte, stellen also die Verbindungen zwischen den einzelnen Computern her. Diese sogenannten Peer-to-Peer-Netze wie Gnutella oder Emule sind kaum zu greifen. Sperrt man einen Server, tauchen medusenartig zehn neue auf. Technisch ausgereifter arbeitet das Bit-Torrent-Netz. Findet der suchende Rechner beispielsweise die gewünschte Datei auf zehn anderen PCs, lädt er gleichzeitig von allen und setzt die Teile automatisch zusammen. So erreicht man sehr hohe Downloadraten.
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Das Dateitauschen oder Filesharing ist einfach: Wer Musikstücke aus dem Netz holen möchte, gibt im Client-Programm den Titel oder Interpreten ein und bekommt meist schnell die Angebote angezeigt. Ein Klick, und schon beginnt der Download. Das ist bislang nicht strafbar. Wohl aber das gleichzeitige Zurverfügungstellen für andere Nutzer, der „Upload“. Setzt man die „Uploadrate“ herunter oder sperrt das Hochladen ganz, erhält man auch weniger Download-Tempo, denn eine Tauschbörse lebt vom gegenseitigen Geben und Nehmen. Mit dem neuen Urheberrecht zum 1. Januar will die Bundesregierung erreichen, dass auch der Download „offensichtlich rechtswidriger Angebote im Internet“ verboten sei. Der Gesetzestext ist aber nicht präzise und lässt noch viele Fragen und Interpretationen offen.
Die Musikindustrie will an den Abmahnungen verdienen
Die Musikindustrie kennt die Tauschnetze bestens und setzt hier mit ihren Fahndern an. Ab einer Menge von 400 Dateien - etwa dem Inhalt von 20 bis 40 Musik-CDs - im freigegebenen Ordner am eigenen PC kommt man in das Visier der privaten Sheriffs. Und der Staatsanwälte. Denn die Fahnder der Musikindustrie müssen die reale Person hinter der Internet-IP-Adresse des Nutzers ermitteln. Dazu brauchen sie die Justiz. Ihr Vorgehen ist immer gleich: Sie versuchen, zwei Dateien deutscher Künstler von der Festplatte des Internetnutzers zu laden und so das „Verbreiten urheberrechtlich geschützter Inhalte“ zu beweisen. Zusammen mit den Verbindungsdaten erfolgt die Strafanzeige. Nun beginnt ein abstruses Spiel: Die Strafanzeige soll keineswegs zu einem Gerichtsverfahren führen, sondern dient allein dazu, Name und Adresse des Musiktauschers von seinem Provider - wie etwa T-Online - zu erfahren. Der Provider muss nur auf richterliche Anordnung reagieren. Das ist der Sinn des Strafantrags. Aber der Staatsanwalt wiederum muss nur tätig werden, wenn die Ermittlung tatsächlich der Strafverfolgung dient. Die Musikindustrie wiederum will an den Abmahnungen verdienen.
Post von der Staatsanwaltschaft: So beginnt ein Ermittlungsverfahren, und es endet teuer
Post von der Staatsanwaltschaft: So beginnt ein Ermittlungsverfahren, und es endet teuer
Die Staatsanwälte werden so zu Datenbeschaffern der Musikindustrie. Sie fühlen sich missbraucht. Viele lehnen deshalb die Bearbeitung solcher Anträge ab, wie Michael Grunwald, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, erläutert: Hintergrund ist die massive Steigerung von Anzeigen. Gingen dort 2005 etwa 60 Verfahren ein, waren es 2006 fast 500 und 2007 allein im ersten Halbjahr schon 1577. Da hier unentgeltlich nur Musik getauscht wird und der „Straftäter“ in erster Linie den noch erlaubten Download anstrebt, besteht kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung: „Ich stelle häufig das Verfahren sofort ein, da es sich um ein Bagatellvergehen handelt“, sagt Staatsanwalt Wiedemann aus Offenburg und spricht offen von der Behinderung bei der Bearbeitung anderer Strafanträge durch die Serienbriefe der Musikindustrie. In Hamburg wird derzeit ein Staatsanwalt pro Tag mit 200 Anzeigen zugeschüttet. Waren es in ganz Deutschland von 2004 bis 2006 insgesamt 20.000 Anzeigen, sind es von Januar bis Spätsommer 2007 allein 30.000. Jeden Monat kommen weitere 5000 dazu.
Kein staatliches Interesse an einer Bestrafung
Stellt ein Staatsanwalt das Verfahren nicht ein, wendet er sich an den jeweiligen Provider. Oft, ohne sich von einem Richter autorisieren zu lassen. Das Zuordnen der Bestandsdaten zu der IP-Adresse ist auch für die Provider mit viel Zeit und Mühe verbunden. Dafür erhält das Unternehmen eine Aufwandsentschädigung von 20 Euro, für die der Steuerzahler aufkommt. Und die Entschädigung fällt gegebenenfalls doppelt an, wenn beispielsweise jemand Kunde von 1&1 ist und auf gemietete Leitungen der Telekom zurückgreift. Die Nutzerdaten erhält der Staatsanwalt, der sie eigentlich nicht braucht, da es kein staatliches Interesse an einer Bestrafung gibt.
In der Regel stellt die Staatsanwaltschaft deshalb das Verfahren ein, und damit beginnt die Abmahnaktion der Musikindustrie. Ihre Anwälte erhalten Akteneinsicht und die Nutzerdaten. Nun bekommt der Tauschbörsen-Nutzer eine schriftliche Abmahnung. Egal, ob 400 oder 40.000 Dateien getauscht wurden, der Brief ist bis auf wenige Zahlen gleich und endet mit einer strafbewehrten Unterlassungserklärung, die der Beschuldigte zurücksenden möge. Oder er landet wegen zivilrechtlicher Ansprüche der Musikindustrie vor Gericht.
Eines der Kinder ist der „Täter“
Der Kölner Rechtsanwalt Christian Solmecke, der Hunderte von Betroffenen vertritt, sagt dazu: „Zu 90 Prozent ist der Haushaltsvorstand der Beschuldigte, der sich seiner Schuld nicht bewusst ist, denn eines der Kinder ist der ,Täter'. Welches, lässt sich häufig weder familienintern und schon gar nicht von außen feststellen.“ Aber Papa freut sich zu früh. Denn nun greift die sogenannte Störerhaftung: Der Vertragspartner des Internet-Providers haftet, wenn über seine Internetverbindung Rechtsbruch begangen wird. Wer beispielsweise sein Wireless-Lan altruistisch betreibt und jedem zur Verfügung stellt, ist für Vergehen anderer Nutzer verantwortlich.
Mindestens 3300 Euro macht der Rechtsanwalt der Musikindustrie für seinen Standardbrief geltend. Es können aber auch 15.000 Euro sein. Entscheidend ist der Streitwert. Er soll den Schaden widerspiegeln, den die Musikindustrie erlitten hat. Nach gängiger Rechtsprechung sind das 10.000 Euro pro Lied, wie zuletzt das Landgericht Köln bestätigte (28 O 480/06). Es wird also davon ausgegangen, dass das Einstellen einer einzigen CD in Tauschbörsen die Musikindustrie um 8000 potentielle Käufer dieser Platte bringt (12 Lieder, 120.000 Euro Schaden, 15 Euro Kaufpreis). Eine fragwürdige, aber immer wieder von den Gerichten bestätigte Auffassung, die allen wissenschaftlichen Studien widerspricht, wonach Downloads aus Tauschbörsen keine negativen, sondern eher positive Auswirkungen auf die Verkäufe von herkömmlichen Tonträgern haben. Anwalt Christian Solmecke empfindet die Honorare für Serienbriefe als „eindeutig zu hoch“ und empfiehlt, zu verhandeln.
Tägliche Suche nach „Musikdieben“
Als größter Tauschbörsen-Fahnder in Deutschland gilt der Hamburger Rechtsanwalt Clemens Rasch. Ehemals Justitiar des „Verbandes der Musikindustrie“, gründete er die Firma „Pro Media“. Etwa 80 Mitarbeiter suchen täglich nach „Musikdieben“, die zwar so gut wie nie verurteilt, aber von Rasch zur Kasse gebeten werden. Nach eigenen Angaben hat Rasch rund 50.000 Familien in den vergangenen Jahren abgemahnt. Der Gesetzgeber erwägt zwar, die Gebühr von Massenabmahnungen mit der dritten Novelle des Urheberrechtsgesetzes zu begrenzen. Im Gespräch sind 50 Euro pro Fall. Justizministerin Zypries meint irrigerweise zu den Abmahn-Aktivitäten der Musikindustrie: „Die wollen nur an die großen Fische ran.“ Aber das klappt nicht, denn nicht einmal der Betrieb eines Tauschbörsen-Servers ist strafbar. Deshalb bleibt Rasch bei der Jagd auf die kleinen Täter, denn dort ist mit geringem Aufwand mehr zu holen. Er resümiert: „Jeder Fall wird geprüft, und danach werden eventuell die geforderten Kosten reduziert, aber es muss dem Täter weh tun.“ Stefan Michalk, Pressesprecher des Verbandes der Musikindustrie, ergänzt: „Im Durchschnitt zahlen die Betroffenen rund 2000 Euro. Das Geld geht nicht an die Labels, sondern wird zur Ermittlung der Täter und für Aufklärungskampagnen eingesetzt.“ Wie viel von den gesammelten Millionen in solche Aktionen fließen, will er allerdings nicht verraten. Die Nachfrage nach Material für die „Aufklärung“ geht ebenfalls ins Leere.
Neuerdings betreiben Polizei und Musikindustrie selbst eigene Tauschbörsen-Server, um Kinder und Jugendliche schneller zu ermitteln. Im vergangenen Jahr war ein solcher Server in das eDonkey-Netz eingebunden. Nach Auswertung der Daten fand eine spektakuläre Aktion statt: 130 Hausdurchsuchungen im gesamten Bundesgebiet, zirka 100 Computer und große Mengen Beweismaterial wurden sichergestellt. Federführend hier: Pro Media von Rechtsanwalt Rasch. Der verantwortliche Oberstaatsanwalt Jürgen Krautkremer legt aber Wert auf die Feststellung, dass die Überwachung des Servers von den Ermittlungsbehörden ausgeführt worden sei. Dieses Vorgehen halten andere Staatsanwälte für rechtlich grenzwertig. Gebracht hat die Aktion außer Medienecho wenig, denn die Menge der kopierten Dateien und deren Nutzer hat sich nicht verringert. Vor einigen Wochen mietete die Kriminalpolizei Hürth in Zusammenarbeit mit der „Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen“ einen Server in den Niederlanden, um als „Agent provocateur“ aufzutreten. Auch das ist rechtlich zweifelhaft. Anwalt Rasch sieht aber nur einen Weg: Jeder „Musikpirat“ müsse wissen, dass er abgemahnt werden könne. Nur wenn er selbst oder jemand in seinem Bekanntenkreis betroffen sei, bewirke dies etwas. Folgerichtig ist der direkte Zugriff der Musikindustrie auf die Nutzerdaten der Internet-Provider sein wichtigstes politisches Ziel.
Von Horst Brandl für FAZ.net
Das sagen die Beteiligten:
„Die Musikindustrie will mit ihren Massenabmahnungen die Leute bestrafen, die sich überhaupt noch für Musik interessieren. Sie wollen den Schwarzen Peter dem Verbraucher zuschieben und nicht einsehen, dass sie es eigentlich zum größten Teil selbst verbockt haben.“ (Rodrigo González von der Rockband „Die Ärzte“)
„Der nächste Gesetzentwurf zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums erleichtert die Situation von Verbrauchern, die sich hohen Rechnungen für eine anwaltliche Abmahnung wegen einer Urheberrechtsverletzung ausgesetzt sehen. Künftig sollen bei einfach gelagerten Fällen die erstattungsfähigen Anwaltsgebühren für die erste anwaltliche Abmahnung nicht mehr als 50 Euro betragen, wenn die Rechtsverletzung unerheblich ist und außerhalb des geschäftlichen Verkehrs erfolgt. Damit stellen wir sicher, dass bei der Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen nicht über das Ziel hinausgeschossen wird. Wer keine geschäftlichen Interessen verfolgt, ist künftig vor überzogenen Abmahnkosten besser geschützt.“ (Ulrich Staudigl, Bundesministerium der Justiz)
„Dass die unter Rechtslaien verbreitete Annahme, 'Eltern haften für ihre Kinder' keine gesetzliche Grundlage hat, lernen Juristen am Anfang ihres Studiums. Trotzdem neigen manche Gerichte dazu, die Eltern als Anschlussinhaber für von Kindern über den elterlichen Netzzugang begangene Rechtsverletzungen haften zu lassen. Damit wird letztlich dem Tor zur Informationsgesellschaft ein Gefährdungspotential zugeschrieben. Das kann so nicht richtig sein, und wir gehen davon aus, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist.“ (Rechtsanwalt Hans Fluhme, Verbraucherzentrale Hamburg)